"Der Himmel über Berlin" - Gedanken zur Abschlussfahrt der 10. Klassen in die Bundeshauptstadt

„DER HIMMEL ÜBER BERLIN“

Gedanken zur Abschlussfahrt der 10. Klassen in die Bundeshauptstadt

Mehr als 30 Jahre nach der Premiere von Wim Wenders Fantasy-Film „Der Himmel über Berlin“, besuchten die drei zehnten Realschulklassen der Peter Ustinov Schule in Hude die heutige Bundeshauptstadt. Was damals noch im isolierten Westteil der Metropole als Kulisse diente, steht heute wie selbstverständlich allen Menschen der Welt offen und zeugt von einem politischen Wunder, das im Sommer 1989 seinen Anfang nahm…

Schon in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war der kulturelle Charme der geteilten City wieder groß und zog Interessierte aus aller Welt in seinen Bann. In Wenders Film verzichtet Bruno Ganz, der einen Engel spielt, sogar auf seine himmlischen Privilegien und wird angesichts des Faszinosums dieser Stadt und seiner Bewohner zum Erdenbürger.

„Als das Kind Kind war,

war es die Zeit der folgenden Fragen:

Warum bin ich ich und warum nicht du?

Warum bin ich hier und warum nicht dort?

Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?

Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?“

P. Handke 1986

Im Lied „Vom Kindsein“, das Peter Handke für Wenders Drehbuch verfasste, thematisierte er die paradiesischen Zustände der Kindheit, die Leichtigkeit des Seins und damit die utopischen Verhältnisse, derer man niemals und nirgendwo sicher ist. Vielleicht symbolisiert dabei das Berlin jener Zeit diesen Traumort, der trotz seiner verlorenen Unschuld im Dritten Reich nie aufgehört hat, Utopisches zu versprechen und es dann zumindest einmal geschafft hat, die Verlockungen der Kindheit, der Leichtigkeit umzusetzen – eben in jenem Herbst des Jahres 1989…

Nach einem aufgewühlten Sommer, mit manipulierten Wahlergebnissen und dem Hauch von Freiheit aus Moskau als Rückenwind, ereignete sich das Wunder der friedlichen Revolution, das „der Stadt und dem Weltkreis“ das Ende des Kalten Krieges bescherte. 

 

„Ist was ich sehe und höre und rieche

nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?

Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,

die wirklich die Bösen sind?“

P. Handke 1986

In diesen Versen meint man eine Anspielung auf die politischen Verhältnisse jenseits der damaligen Mauer zu erkennen – auch wenn sie universell zu verstehen sind. Die Bürger der DDR, jedenfalls, nutzten die Chance der Geschichte und schüttelten das Joch des real existierenden Sozialismus ab, um in der Folge in einer wahren Demokratie leben zu können, die ihnen mehr als einen Schein einer Welt bieten sollte... 

Angesichts der erschütternden Zeugnisse einer erst gerade überwundenen Vergangenheit, verstummten unsere Schülerinnen und Schüler gerade in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, in der die Stasi Regimekritiker physisch und psychisch folterte, um Geständnisse zu erpressen, die so gegenstandslos waren wie die Phrasen des Politbüros der Staatsführung.

Hier, wie auch schon tags zuvor in einem Luftschutzbunker des Zweiten Weltkriegs, konnte die in Berlin verdichtete Geschichte des 20. Jahrhunderts direkt gespürt und als Vertiefung des Politik- und Geschichtsunterrichts und der Frage nach dem Bösen verstanden werden. So fügte sich der Besuch in der Hauptstadt konsequent in das Unterrichtsgeschehen ein und erweiterte den Horizont durch die Einbeziehung außerschulischer Lernorte, denen zusätzlich eine ganzheitliche Dimension des Lernens zugesprochen werden kann.

Neben den angesprochenen Gedenkstätten fällt im Stadtteil Berlin-Charlottenburg die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche besonders auf. Die Weltkriegsruine in der Nähe unserer Unterkunft mahnt die Hinterbliebenen und Nachgeborenen, den Krieg nicht heraufzubeschwören und stattdessen den Frieden zu suchen. Dementsprechend sollen die blauen Fenstersteine des Neubaus Assoziationen mit Harmonie, Sehnsucht nach dem Himmel und Zufriedenheit hervorrufen – Zustände, die wiederum an das Wunder der  unbeschwerten Kindheit erinnern, die diese aber durchaus überdauern dürfen… 

Das Programm der Abschlussfahrt sah auch den Besuch im Filmpark Babelsberg vor. Hier faszinierte vor allem eine Stuntshow, die zeigte, dass Berlin und seine Umgebung auch immer cineastisch geprägt waren: anfangs durch die UFA, später, während der DDR-Zeit, durch die DEFA. Gleich beide deutschen Diktaturen bedienten sich der illusionistischen Künste dieser Traumfabrik und ließen Filme produzieren, die das jeweilige Weltbild stützen sollten.

Der vielleicht bedeutendste DEFA-Film entzog sich jedoch der politischen Vorgabe und thematisierte ungewohnt offen die deutsche Teilung: „Der geteilte Himmel“, 1964 nach einer Erzählung von Christa Wolf verfilmt, stellte die Staatsführung der DDR vor große Herausforderungen. Einerseits kehrt die Protagonistin aus dem für sie nur schwer verständlichen West-Berlin in die Ostheimat zurück und unterstützt damit die Propaganda vom „besseren Osten“, doch andererseits bleibt ihr Freund im Westen und kehrt der DDR den Rücken. In Ost-Berlin fürchtete man sich vor einer Diskussion um das Thema „Republikflucht“ und so erschwerte man regelmäßig den Zugang zu diesem Werk. 

„Der geteilte Himmel“ wurde ebenso zum Symbol eines Zeitgefühls, das unumgänglich mit der deutschen Teilung im Allgemeinen und mit der Stadt Berlin im Speziellen verbunden ist, wie Wenders Kultfilm „Der Himmel über Berlin“…

Eben jener Himmel, der uns träumen und hoffen lässt, der unser abendländisches Denken aus religionsgeschichtlichen Gründen mit der Zukunft verknüpft, aus dem es Bomben, aber auch Hilfspakete regnen konnte - dieser Himmel ließ sich niemals okkupieren, weder vom Osten, noch vom Westen. 28 Jahre teilte zwar eine irdische Mauer die Welt in zwei ideologische Hälften, die den Menschen diesseits und jenseits des Bauwerks einen jeweils anderen Himmel vorspiegelten. So wähnte man sich jeweils im Recht gegenüber dem Bruderstaat und versuchte sich auf beiden Seiten im Aufbau einer Utopie, die den Himmel auf Erden bereiten sollte. Weder das eine, noch das andere Konzept funktionierte reibungslos, doch das demokratische System des Westens überdauerte – nicht zuletzt, weil es dem Individuum mehr Raum zur Entfaltung bot. Heute, 29 Jahre nach dem Fall der Mauer, strahlt der Himmel über Berlin, einer selbstbewussten Stadt, die ihre Geschichte nicht verleugnet und ihre Verantwortung wahrnimmt, um den Menschen Chancen zu bieten – Chancen, die sie über sich hinauswachsen lassen und die die kindliche Lebensfreude an der kapitalistischen Utopie des Wachstums und der grenzenlosen Freiheit nähren. Doch zwischen den modernen Glas-Stahl-Beton-Bauten mehren sich die Anzeichen einer zunehmenden Verarmung ständig wachsender Gruppen, die vom Aufschwung abgehängt wurden. Der Engel aus Wim Wenders Film würde heute wohl eher aus karitativen Gründen die Stadt besuchen und vielleicht ist es deshalb an der Zeit, Christa Wolfs Bild vom „geteilten Himmel“  neu verstehen zu lernen…

„Als das Kind Kind war…

hatte es auf jedem Berg

die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg,

und in jeder Stadt

die Sehnsucht nach der noch größeren Stadt,

und das ist immer noch so…°

P. Handke 1986

Text und Fotos: Dr. Joest Leopold

 

 

 

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