Gedanken zum Waldtag an der Peter-Ustinov-Schule

„ARM IN ARM UND KRON‘ AN KRONE STEHT DER EICHENWALD VERSCHLUNGEN

HEUT  HAT ER BEI GUTER LAUNE MIR SEIN ALTES LIED GESUNGEN…“

Gottfried Keller

 

J. Leopold: Friederikeneiche im Hasbruch (von Osten), 2019

Seit einigen Jahren findet nun schon regelmäßig im Frühling der Waldtag für unsere achten Klassen im Forst Reiherholz – zwischen Hude und Hurrel - statt. Er dient vorrangig der ökologischen Kompetenzbildung und wird von den Naturwissenschaftskollegen in Zusammenarbeit mit dem Waldpädagogikzentrum der Niedersächsischen Landesforste organisiert und durchgeführt. Angesichts der Tatsache, dass etwa ein Drittel Deutschlands bewaldet ist, kann die Bedeutung dieses Ökosystems nicht übersehen werden. Ökologische Aspekte des Lernens fanden seit den 1970er Jahren wieder Eingang in das Schulleben und in die curricularen Vorgaben der bundesdeutschen Schulen. Eine politische Fokussierung ökologischer Ideen begann ebenfalls Ende der bewegten 1970er Jahre und gipfelte 1980 in der Gründung der Umweltpartei „Die Grünen“. Doch ein Zusammenhang zwischen ökologischer Bildung und Politik sind nichts Neues in Deutschland. Die Beschäftigung mit der Natur und ihrem Schutz wurzelt bei uns wie anderenorts letztendlich in der Religionsgeschichte und reicht damit weit in die zeitlosen Tiefen der Vergangenheit zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg riss der Faden ökologischer Fokussierung jedoch kurzzeitig ab, da die Nationalsozialisten des Dritten Reiches Umweltpolitik, Religionsgeschichte und Heimatideologie miteinander verknüpften und damit für kommende Generationen unbrauchbar machten. Erst die Protestwellen der Studentenbewegung in den 1960er Jahren lösten eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit aus und befreiten in der Folge auch den Naturschutz aus der Klammer des Heimatgedankens. Eine moderne Interpretation wurde somit erst spät – um 1980 – ermöglicht. Aber wo genau liegen eigentlich die Wurzeln der deutschen Umweltgeschichte? Um diese Frage zu klären, verlassen wir die Gegenwart und begeben uns auf eine Spurensuche in der Kulturgeschichte…

Dr. Joest Leopold: Für S.D., 2018

 

Dr. Joest Leopold: Der Himmel über dem Hasbruch, 2018 

 

Nach dem Ende der Eiszeiten kam es in Europa zu einer rasanten Bewaldung, die dem Menschen neue Aufgaben stellte. Er arrangierte sich und schuf im Laufe der Zeit eine abwechslungsreiche Landschaft aus Wäldern und gerodeten Offenflächen, um das Überleben durch aneignende und produzierende Wirtschaft sichern zu können. Auf diese Zeit im Holozän gehen auch die ältesten überlieferten religiösen Ideen zur Landschaft und ihrer Gestaltung zurück. Wir wollen jedoch nicht so tief schürfen, sondern den Ursprung der Politisierung unserer Wälder an den Anfang der Betrachtung stellen.

Zur Zeit der römischen Expansion nach Norden, bedeckten riesige Waldflächen Mitteleuropa, in denen die verschiedenen Stämme der Germanen lebten. Diese Wälder bildeten natürliche Sperrriegel gegen die vorrückenden römischen Legionen, z.B. auch die des Feldherren Varus, der im Jahre 9 n.Chr. vom germanischen Kriegsherren Arminius im Raum des heutigen Teutoburger Waldes vernichtend geschlagen wurde. Diese Niederlage fand Eingang in die Literatur der Antike – namentlich in die „Germania“ des Tacitus -  und diente bis ins hohe Mittelalter als scheinbarer Beweis für die Barbarei der Waldvölker und damit ganz Mitteleuropas. Doch Wald und Wildnis bilden überall auf der Welt Wurzelgründe des Lebens, aus denen in  mythologischen Ursprungs- und Paradieserzählungen Gärten wurden: Das biblische Eden und auch das  griechische Arkadien stellen z.B. zwei bekannte Ideen dieser Art dar, die im Buch Mose und bei Hesiod beschrieben wurden. In der Regel domestizierten die antiken Kulturen des Mittelmeerraumes den Wald und passten diese Entwicklung auch ihrer Mythologie an. So tauchten vielerorts nur noch einzelne Bäume als Symbole des ursprünglichen Waldes auf – wie auch bei den Römern, die von einem Baum erzählten, unter dem Romulus und Remus gesäugt wurden.  Naturnah lebende Völker ordnen sich eher der Umwelt unter, während sich urbanisierende Völker überlegen fühlen und die Natur unterordnen. Bedingt durch Tacitus Schriften blieb das Bild Mitteleuropas im urbanen Italien, dem Zentrum der katholischen Kirche, eher negativ. Das reich bewaldete Deutschland galt somit als naturnah und kulturlos, im Gegensatz zu den kulturell scheinbar überlegenen Mittelmeeranrainern. Auch und gerade die hochmittelalterliche Emanzipation nordeuropäischer Architektur sorgte für Missstimmung: Es blieb den klassisch geprägten Italienern nicht verborgen, dass der Weg durch die Säulenreihen einer gotischen Kathedrale dem Weg durch eine Allee oder Baumreihe ähnelte und damit schon wieder den so verachteten Wald hervorhob. Erst Altdorfers Waldszenerien, die im frühen 16. Jh. in Süddeutschland entstanden, schafften im unbeständigen Deutschen Reich eine patriotische Verehrung der Natur im Allgemeinen und des eigenen Waldes im Speziellen. Altdorfers deutscher Wald erscheint geradezu heroisch und geordnet und gar nicht barbarisch…

A.Altdorfer: Drachenkampf des hl. Georg im Laubwald, 1510

Das wachsende deutsche Selbstbewusstsein wurde durch künstlerische Ausdrucksformen, wie sie Albrecht Altdorfer und auch Albrecht Dürer für die Landschaftsdarstellung suchten, gestärkt. Dazu kam der Gedanke der Reformation, der mit Martin Luther ebenfalls eine deutsche Wurzel aufweist, so dass man sich der Römisch-Katholischen Kirche und ihrem kulturellen Monopol plötzlich ebenbürtig fühlte. Doch die katholische Gegenreformation und der 30-jährige Krieg zerstörten diese ersten Anfänge positiver deutscher Identität. Der Wald wurde militärisch verwüstet, angesichts der kalten Winter während der Extremphase der Kleinen Eiszeit vom Volk ausgebeutet und seine Reste blieben ein Hort des Bösen, der Räuberbanden beherbergte und allenfalls als Ressource für Bauholz jeder Art und Energieträger dienen konnte. So wurde der Wald im Laufe der Jahrhunderte sukzessive zerstört, bis es wiederum Künstlern und Literaten auffiel, dass er schwand.

Dr. Joest Leopold: „Wer hat dich, du schöner Wald…?“ (Eichendorff), 2019 

Spät, im 18. Jh., kam es dann zu ersten Aufforstungen mit schnell wachsenden Arten wie der Fichte, die seither zahlreiche, vorher durch Bergbau geschundene Mittelgebirge, bedeckt. Die Aufforstungen jener Zeit müssen aber in erster Linie im Zusammenhang mit der Errichtung von Forstschulen gesehen werden, in denen das Wissen um den Wald konzentriert und weitergegeben wurde. Den zahlreichen Landesherren auf deutschem Boden war nämlich plötzlich die Erkenntnis gekommen, welche militärische und wirtschaftliche Relevanz den Wäldern zukam! Besonders Friedrich der Große machte sich einen Namen als „Aufforster“ seines an Sand so reichen Landes. Schnell wachsendes Stangenholz befriedigte die Ansprüche am einfachsten. Die angestrebte wirtschaftliche Nachhaltigkeit durch monokulturelle Wälder stand schon damals im Gegensatz zu naturschwärmerischen und ökologischen Forderungen nach einer biodiversen Pflanzung…

A.Ranger-Patzsch: Gebirgsforst im Winter, 1936

Im Jahre 1772 kam es in Göttingen zur Gründung des s.g. Hainbundes, einer dem deutschen Sturm und Drang zuzuordnenden Gruppe, die naturverehrend und antirationalistisch eingestellt war. Die sich auf Klopstock berufenden Mitglieder können als philosophische Antwort auf die französisch-italienische Dominanz in den höfischen Etiketten und ihren kulturellen Ausdrucksformen, wie der architektonischen Naturbearbeitung,  verstanden werden. Man verehrte im Hainbund die majestätischen und urwüchsigen Bäume der Heimat wie die Eichen und Linden – und nicht die Alleen und beschnittene Baumreihen wie im katholischen Frankreich - und beeinflusste damit auch die kommenden Generationen in Literatur, Kunst und Politik. Heinrich Heine bereiste den wieder bewaldeten Harz und bestieg den Brocken, Casper David Friedrich malte das erhabene Wilde in der Natur, verband es mit der deutschen Form der Gotik und die Gebrüder Grimm sammelten und kompilierten eine Ausgabe deutscher Mythen, die uns in vereinfachter Form bis heute als Hausmärchen erhalten geblieben sind. In ihnen, wie auch in Friedrichs Bildern, spielt der Wald eine herausragende Rolle… 

In dieser Zeit kam es zu einer intensiven, aber noch zusammenhangslosen Identitätsverdichtung in Deutschland. Hier rivalisierten Preußen und Österreich um die Vorherschaft im Deutschen Bund. Erst Preußens protestantischer Sieg über das katholische  Österreich, 1866, führte in der Folge schließlich zu einer neuen Reichsgründung, die man als Demütigung des Katholizismus und seiner Vasallen im Herzen des sich auf die römisch-katholische Kirche berufenden Frankreichs inszenierte. Kaiser Wilhelm I wurde daraufhin zum modernen Arminius stilisiert und im Teutoburger Wald verehrt, wo es zur Errichtung eines großen Denkmals kam. So fand der Sieg des Arminius – der in Deutschland fälschlich als Herrmann bezeichnet wird -  Eingang in die neue Heilslehre der Deutschen, die nunmehr ihren Kaiser als legitimen Nachfolger des germanischen Kriegsherrn feierten.      

 

H.Ulbrich: Ansicht des Hermannsdenkmals, 1909

Aus verschiedenen Gründen entwickelte sich aber während des zweiten deutschen Reiches ein ausufernder Nationalismus, der nicht nur den Boden für die jugendliche Wandervogelbewegung und die Naturfrömmigkeit Ludwig Klages, sondern auch für den Nationalsozialismus und das Dritte Reich bereitete.

Die Nationalsozialisten waren bemüht, eine kollektive Mythologie zu schaffen, an deren Basis der s.g. germanische Wald und „Hermanns“ Sieg über die Römer standen. Die bei Tacitus erwähnten Eichenwälder galten fortan als „urdeutsch“. Mit Hermann Göring als Reichsforstminister schufen die Faschisten ein gigantisches Naturschutzprogramm, das den Wald besser schützte als die Menschen. Die lächerliche Inszenierung s.g. deutscher Stärke aus dem Wald führte zu einer Ideologisierung des Naturschutzes im Dienste der Heimatgeschichte. Man beachte, wie häufig es gelang, Hitler vor einem waldigen Hintergrund zu fotografieren! 

Nach der Befreiung 1945 wagte sich sobald kein politisch Verantwortlicher mehr an das Thema Naturschutz heran. Eine Rückbesinnung auf die Natur und ihren Schutz ging erst in den 1970er Jahren wieder einmal von Künstlern aus. Anselm Kiefers narrative Waldbilder, vor allem zum Komplex der „Hermannslegende“, wie „Varus“ von 1976, thematisierten Deutschlands mentales Gefängnis, das ausweglose Gewirr nationaler Mythologie, in dem wir uns verfangen hatten und das auch nach Hitler weiter existierte. Das angesprochene Werk zeigt einen blutigen Pfad, der sich in einem vollständig verschlossenem und eingefrorenem Wald verliert, in dem die Namen Varus, Hermann und Tusnelda deutlich zu lesen und miteinander verknüpft sind. Deutschlands vermeintlicher Ursprungsmythos entpuppt sich hier als Trauma, dessen nationale Aufarbeitung das Eis der faschistischen Vergangenheit sprengen und eine Versöhnung einleiten könnte. Der Wald – hier Kathedralen gleich überhöht - symbolisiert bei Kiefer die überkommene und zu hinterfragende Deutschtümelei – eine Einstellung, die ihm schon früh ein positives Echo aus Israel und anderen Staaten einbrachte. 

A.Kiefer: Varus, 1976

Joseph Beuys dagegen startete 1982 zur Documenta 7 sein Projekt „7000 Eichen“ zur neuerlichen Verwaldung Deutschlands als Antwort auf die ausufernde Urbanisierung und das Waldsterben. Der für „Die Grünen“ kandidierende Künstler war in den frühen 1980er Jahren, als das Thema „Waldsterben“ die Republik beschäftigte, eine prominente Stimme für eine friedliche und ökologische Politik. Die Verbindung zwischen der Friedensbewegung und der Naturschutzbewegung in Deutschland fand damals erstmals ohne den gefürchteten Nationalismus statt. Ein parteiübergreifender Konsens entwickelte sich, um die durch Industrie und Emissionen gefährdete Natur um ihrer selbst zu schützen. So war auf dem Höhepunkt der Umweltdebatte 1983 die Bundestagswahl für keine Partei ohne ökologische Fokussierung zu gewinnen. 

 

Der Spiegel 47/1981

K.Staeck: Saurer Regen, 1983

Seither ist der Wald politisch und gesellschaftlich besser geschützt. Um einer erneuten Ideologisierung vorzubeugen, bedarf es aber der anhaltenden Aufklärung vor Missbrauch. Patriarchalisch organisierte rechte Gruppen betreiben nämlich zurzeit - vor allem auf dem Land - wieder Heimatpflege nach dem Vorbild des Dritten Reiches und versuchen,  Wald und Boden erneut zu instrumentalisieren. Hier gilt es, demokratische Größe zu beweisen und mit Nachdruck durch Entmythologisierung, gegenzusteuern. Entmythologisierende Waldbilder kennen wir erst heute, vor allem von Sven Drühl. Der Künstler misstraut dem vermeintlichen Naturalismus in der Kunst im Speziellen. Er skelettiert bestehende Bilder aus der Kunstgeschichte und übernimmt lediglich einzelne Bildelemente, deren Umrisse er mittels Silikon „zeichnet“ und mit Lacken und anderen Farben koloriert. Drühl zitiert damit – typisch postmodern – Kollegen, deren Werke er aber vom Zeit- und Lokalkolorit befreit, so dass sie ihren ursprünglichen ideologischen Wert verlieren. Sein konsequenter Verzicht auf die Darstellung menschlicher Wesen darf nicht als Anthropophobie missverstanden, sondern muss als Versuch kultureller Bescheidenheit verstanden werden: Das Motiv ‚Wald‘ wird damit bei ihm wieder zu dem, was es eigentlich ist. Gerade diese Entmythologisierung kann heute helfen, das Waldbild in Deutschland von seiner wechselhaften Geschichte zu entkoppeln, um altvorderen Ideen entgegenzuwirken.

 S.Drühl: I.S. (Confusion), 2004

Auf diese Weise können nationale Ambitionen bloßgestellt und im Keim erstickt werden. Drühl zeigt auf, dass Landschaft nichts anderes ist, als eine Konstruktion des menschlichen Geistes und keine Heimat – schon gar keine nationale - per se. Diese wird erst durch emotionale Aufladung daraus gemacht, der Drühl aus unterschiedlichen Gründen eine Absage erteilt: Er misstraut auch dem Objektivitätsanspruch der Bilder, aus dem in der Vergangenheit politische Setzungen abgeleitet wurden, zutiefst.

S.Drühl:C.D.F.(Bastard), 2003

Indem wir den Wald so um seine ideologische Komponente verkürzt haben, kann die vielschichtige Bedeutung dieses Ökosystems ganz anders und vor allem als globales Phänomen erkannt und genutzt werden. 

J.Leopold: Metsä II, 2018

Der Waldtag an der Peter Ustinov Schule in Hude kann so auch dazu beitragen, nationale Animositäten der Vergangenheit abzubauen und dem Kreislauf aus kultureller Unterdrückung auf der einen Seite und ideologischer Überhöhung auf der anderen Seite zu entfliehen. Damit steht dieses Ereignis auch in der Tradition des Namensgebers unserer Schule, der sich nicht nur als UNICEF-Botschafter, sondern mit seinem Lebenswerk für den Abbau von Vorurteilen eingesetzt hat. Gingen die Lernenden im Dritten Reich noch in den „deutschen Wald“, um dort zu lernen, dass sich das Stärkere durchsetzt und um daraus abzuleiten, dass es sich bei den Völkern zwingend genau so verhalte, so gehen unsere Schülerinnen und Schüler heute vorurteilsfrei in den Wald, um seine  grundlegende Bedeutung für die Menschen und die Natur zu ergründen. Dabei wird gerade im Direktkontakt das Erleben des Waldes angestrebt, um ihn und seine Bedürfnisse besser begreifbar zu machen. In der Zukunft sollte weltweit der Anspruch der friedlichen Bewahrung – nicht nur in  Schöpfungstheologie und Ökologie – fokussiert werden. Nur wenn die anthropozentrische Anmaßung, die einer Politisierung des Waldes innewohnt, weiter zurückgedrängt wird, kann der Wald letztlich seine vielschichtigen Aufgaben für den Planeten und seine Bewohner erfüllen. 

J.Leopold: Friederikeneiche im Hasbruch (von Westen), 2019 

 

J. Leopold: Totholz, 2018

Text: Dr. Joest Leopold

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